Gedichte, Krimis, Satiren und Geschichten

von Gunnar Schuberth

In der Nähe von Siena

Doch einmal, morgens um sechs, stand ich auf und schloss alle Fenster, und verklebte die Ritzen an der Tür und am Fensterrahmen und steckte mir Wachs in die Ohren.
Und der Schweiß lief mir über das Gesicht, über die Brust und den Rücken, und ich zitterte, aber ich musste etwas tun, um die Stimmen nicht mehr zu hören.

Der Schlaf des Schmetterlings

 

 

Angela Merkels geheimes Tagebuch

EndzeitstimmungAngela Merkel

09.10.2017

Liebes Tagebuch, was für eine Woche liegt hinter mir. Alle reden jetzt dauernd, dass es zu Ende mit meiner Amtszeit geht. Es gibt sogar unverschämte Forderungen von einigen Parteikollegen, dass ich den Weg frei machen soll für einen Nachfolger. Ich verstehe das nicht. Glauben die denn wirklich, die könnten es besser machen?

Und dauernd erzählt man mir, wie schön doch die Zeit im Ruhestand sein könnte. Peter Tauber hat mir vorgeschlagen, für den Wahlkampf in Niedersachsen vor allem die Seniorenheime zu besuchen. Dabei würde ich auch sehen, wie viele Frauen in reifem Alter ihren Ruhestand als einen Segen empfinden und ihre Zeit nutzen mit so wunderbaren Vergnügungen wie Bingoabenden oder Blockflöte spielen.

Alle in meiner Umgebung spielen sie verrückt. Jens Spahn hat mir einen Link mit den neuesten Angeboten der internen Bundestagsfortbildung geschickt. Ich konnte kaum glauben, was ich da las.

  • 12.11. Bingo. Der ideale Zeitvertreib im Ruhestand.
  • 20.11 Flötenspielen bis ins hohe Alter.
  • 24.11. Testament verfassen für Dummys.

Die letzte Fortbildung hatte Spahn dick unterstrichen. Als ich ihn aufsuchte, um ihn zur Rede zu stellen, probte er gerade den Kanzlereid. Er hatte die Hand erhoben und auf meine Frage, was das soll, behauptete er, er praktiziere eine exotische Tai Chi Stellung. Ziel sei die absolute Leere des Geistes. Es ist traurig, dass ihm nicht einmal mehr eine gute Ausrede einfällt.

Sogar Horst, der sonst nur das Thema Obergrenze kennt, verbreitet Endzeitstimmung. Er wirkte schwermütig, als er diese Woche anrief. „Der Sommer war sehr groß“, begann er. „Und jetzt haben wir Herbst. Da fragt man sich Grundsätzliches. Können wir noch zusammen die großen Fragen beantworten. Gibt es überhaupt noch ein zusammen? Sind du und ich noch ein wir? Oder ist da eine Grenze, die immer stärker wächst, die Obergrenze?“ Ich habe aufgelegt.

Das Gespräch mit Donald Trump war nicht viel besser. Nach etwas Smalltalk, den er immer macht am Anfang und bei dem es darum geht, ob er Nordkorea lieber mit einer Atombombe oder mit chemischen Waffen platt machen soll, hat er mich eine lame duck genannt. „You are a lame duck.“ Er hat gelacht und konnte gar nicht mehr aufhören: „You are such a lame duck.“

In diesen turbulenten Tagen gab es Momente, da verspürte ich Zweifel. Kann ich Menschen mit meinen Überzeugungen noch erreichen? Habe ich überhaupt Überzeugungen?

Dann hatte ich eine schicksalhafte Begegnung mit Abgesandten der Union der deutschen Kartoffelwirtschaft. Sie überreichten mir einen Geschenkkorb mit Kartoffeln, ein Dank für mein viel beachtetes Rezept zur Kartoffelsuppe, das, wie Experten bestätigt haben, die deutsche Kartoffelkultur um wichtige Aspekte bereichert hat.

Ich nutzte die Gelegenheit zu einer kleinen Ansprache. Es war mir ein Anliegen zu betonen, dass der Erfolg unserer Kartoffel nur auf einem Kartoffelacker möglich sei, in dem Werte wie Demokratie, Freiheit, Recht und Respekt vor Minderheiten geachtet werden.

„Sie wissen alle“, sagte ich, „wie sehr die heimische Kartoffel mir am Herzen liegt. Und ich rede hier nicht nur von den Kartoffeln, die schon länger hier wachsen, sondern auch von den Kartoffeln, die neu hinzugekommen sind. Denn ich möchte betonen, dass es auch eine Willkommenskultur für Kartoffeln gibt.

Ich weiß, viele von Ihnen haben Angst, dass es eine Überfremdung der deutschen Kartoffel gibt. Dass die heimische Kartoffel verdrängt wird von osteuropäischen Billigkartoffeln, von Kartoffeln aus Südamerika oder Genkartoffeln aus Amerika. Dass fremdartige Kartoffelsorten unsere heimische Kartoffel verschwinden lassen und am Ende eine spezifisch deutsche Kartoffelkultur überhaupt nicht mehr sichtbar ist.

Doch können fremde Kartoffelsorten nicht auch eine Bereicherung für die deutsche Kartoffel sein? Ich bin überzeugt, dass eine Abschottung der heimischen Kartoffel falsch ist, ja schädlich für die deutsche Kartoffelkultur. Sie als Kartoffelzüchter, die schon lange hier leben oder neu dazugekommen sind, ich sage Ihnen, wir dürfen in unserem Handeln nicht in nationalen Kartoffeläckern stecken bleiben. Wir müssen uns zu dem Gedanken einer europäischen Kartoffel bekennen. Einer Kartoffel, die den nationalen Geschmack hinter sich lässt und die Werte einer freien und offenen Gesellschaft repräsentiert.“

Der donnernde Beifall nach meiner kleinen Rede war eine Wohltat. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne Kartoffeln essen.“ Mit diesen Worten verabschiedete ich mich.

Am Wochenende war dann alles wie immer. Bei der Jungen Union gab es nach kleinen Scharmützeln den üblichen Applaus. Und Horst habe ich soweit gebracht, dass er das Wort Obergrenze nicht mehr in den Mund nehmen will. Ich denke, es wird noch einige Zeit dauern, bis ich mein Amt abgebe.